Süchte der Neuzeit
- Michael
- 17. Nov.
- 5 Min. Lesezeit

Wenn man von Süchten spricht, denken viele zuerst an harte Drogen, Glücksspiel oder den klassischen Alkoholiker. Doch ein großer Teil der modernen Süchte ist viel leiser, gesellschaftlich akzeptierter und deshalb besonders gefährlich. Es handelt sich um Verhaltensweisen, die längst zum Alltag gehören: stundenlanges Scrollen durch Social Media, das Handy ständig in der Hand, sobald eine kurze Leerlaufphase entsteht, das permanente „Erreichbar sein“, das Feierabendbier oder der „Absacker“ am Wochenende. Für sich genommen wirken diese Verhaltensweisen oft harmlos. In der Summe führen sie jedoch zu einer Gesellschaft, die immer schneller nach Stimulation sucht, schwerer abschalten kann und zunehmend mit künstlichen Belohnungen arbeitet statt mit echter Befriedigung.
Heutzutage begegnen dir Systeme, die darauf ausgelegt sind, dein Belohnungssystem im Gehirn zu aktivieren. Unser Gehirn ist jedoch in seiner Grundarchitektur immer noch das eines Jägers und Sammlers: Belohnung war früher selten und stets mit Anstrengung, Risiko und echten Zielen verbunden, etwa bei einer erfolgreichen Jagd, beim Finden von Nahrung oder im sozialen Zusammenhalt. Heute erhältst du denselben Botenstoff, Dopamin, in Sekundenschnelle: ein neuer Like, ein kurzes Video, eine Nachricht oder ein „Ping“ von einer App. Große Unternehmen investieren erhebliche Summen, um ihre Plattformen so zu gestalten, dass du immer wieder genau dann eine kleine Belohnung bekommst, wenn dein Gehirn sie erwartet oder knapp verpasst. Daraus entsteht ein Kreislauf, in dem ein neuer Reiz das nächste Verlangen auslöst, noch bevor das vorherige vollständig abgeklungen ist. Besonders Kurzvideos auf Instagram, TikTok, Facebook oder YouTube sind wie kleine Spielautomaten: Wischen, Reiz, Belohnung, wieder wischen. Aus neurobiologischer Sicht ähneln diese Mechanismen klassischen Suchtprozessen, weil sie die gleichen Belohnungssysteme im Dopaminkreislauf ansprechen und verändern können.
Das Problem dabei ist, dass vieles davon gesellschaftlich nicht nur akzeptiert, sondern sogar erwartet wird. Wenn du in der Bahn sitzt, im Wartezimmer stehst oder auf jemanden wartest, wandert die Hand oft unbewusst zum Handy. Ein Moment der Stille fühlt sich inzwischen fast falsch an. Du entscheidest nicht mehr bewusst: „Ich schaue jetzt in eine App.“ Es passiert automatisch, antrainiert und ritualisiert. In vielen Berufen ist es normal, fast rund um die Uhr erreichbar zu sein: Mails am Abend, Messenger-Nachrichten am Wochenende, kurze Briefings im Urlaub. Was vor 20 Jahren noch als Grenzüberschreitung galt, wird heute oft als Engagement oder Flexibilität gesehen. Parallel dazu ist Alkoholkonsum in vielen Gesellschaften Alltag, etwa das Glas Wein nach Feierabend, das Bier nach der Schicht oder Shots am Wochenende. Besonders in Europa ist alkoholbedingter Schaden sehr hoch: Die Region zählt weltweit zu den höchsten Konsummengen, und Alkohol trägt maßgeblich zu verkürzter Lebenserwartung, chronischen Krankheiten und Tausenden von Todesfällen jährlich bei.
Wenn man solche Muster digitaler Dauerstimulation, ständiger Erreichbarkeit und normalisierten Alkoholkonsums kombiniert, entsteht ein Bild, das weit über „ein bisschen Ablenkung“ hinausgeht. Studien belegen, dass exzessiver Gebrauch von Smartphones und Social Media mit Konzentrationsschwierigkeiten, eingeschränkter Emotionsregulation, Schlafmangel sowie höheren Raten von Depressionen und Angststörungen verbunden sein kann. Bereits die bloße Anwesenheit eines Smartphones in der Nähe reicht in Experimenten aus, um die kognitive Leistungsfähigkeit messbar zu verringern. Ein Teil deiner Aufmerksamkeit ist ständig vom Gerät „reserviert“, auch wenn du es nicht aktiv nutzt. Die ständige Flut an Nachrichten und Benachrichtigungen erzeugt zudem ein Gefühl von Dringlichkeit und „Fear of Missing Out“, was es erschwert, richtig abzuschalten und langfristig fokussiert zu bleiben oder zu arbeiten.
Die Entwicklung ist bei Jugendlichen besonders deutlich sichtbar: In Europa ist der Anteil der Jugendlichen mit problematischer Social-Media-Nutzung in wenigen Jahren von etwa 7 % auf rund 11 % gestiegen. Zudem zeigt ein nennenswerter Anteil suchtähnliche Muster beim Gaming. Langzeitstudien deuten darauf hin, dass Jugendliche mit suchthaftem Bildschirmverhalten nicht nur viel Bildschirmzeit nutzen, sondern auch eine Nutzung, die den Alltag und die Gefühle erheblich beeinträchtigt, einem deutlich höheren Risiko für depressive Symptome, emotionale Probleme und sogar Suizidgedanken ausgesetzt sind. Das bedeutet nicht, dass jeder, der viel am Handy ist, automatisch krank wird. Aber die Daten zeigen: Wenn die Nutzung zwanghaft wird und andere Lebensbereiche verdrängt, steigt das Risiko erheblich.
Auf gesellschaftlicher Ebene verschieben sich die Maßstäbe leise. Was früher als übertrieben galt, ist heute normal. Wenn „alle“ ständig erreichbar sind, wirkt man schnell unzuverlässig, wenn man Grenzen zieht. Beim kleinsten Leerlauf greifen viele zum Handy, sodass kaum jemand bemerkt, dass niemand mehr einfach nur sitzt, nachdenkt, sich langweilt oder die Umgebung wahrnimmt. Wenn „alle“ am Wochenende trinken, hinterfragt man das eigene Verhalten weniger, selbst wenn der Konsum problematisch ist. Diese Normalisierung ist eine der größten Gefahren moderner Süchte: Die Schwelle, ab der Verhalten als ungesund gilt, verschiebt sich nach oben. Man vergleicht sich nicht mehr mit dem, was einem langfristig guttäte, sondern mit einem Umfeld, das selbst Probleme hat.
Langfristig kann diese Kombination die Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen verändern. Auf der Aufmerksamkeitsebene gewöhnen wir uns an kurze, schnelle Reize und haben zunehmend Schwierigkeiten, uns über längere Zeit zu konzentrieren. Das betrifft nicht nur emotionale Aspekte, sondern auch konkrete Bereiche wie Bildung, Arbeit und Kreativität. Tiefgehendes Lernen, komplexes Denken und echte Innovation erfordern Phasen ungestörter Konzentration. Diese werden jedoch durch ständige Unterbrechungen, Multitasking und permanente Erreichbarkeit beeinträchtigt. Wenn eine ganze Generation damit aufwächst, dass jedes unangenehme Gefühl, Langeweile oder Unsicherheit sofort durch einen Bildschirmreiz überdeckt wird, lernt sie, Frust auszuhalten, Dinge auszusitzen und innere Spannungen anders zu regulieren.
Auf der emotionalen Ebene verändern neue Süchte, wie wir mit Stress, Einsamkeit oder innerer Leere umgehen: Statt schwierige Gespräche zu führen, scrollen wir durch den Feed. Statt Erschöpfung ernst zu nehmen, trinken wir schnell noch etwas zum Entspannen. Statt unangenehme Aufgaben anzugehen, verschieben wir sie mit kurzen Videos, die oft eine halbe Stunde dauern. Das funktioniert kurzfristig: Der Stress scheint zu verringern; wir fühlen uns unterhalten oder betäubt. Langfristig aber verlernen wir, echte Probleme an ihrer Ursache anzugehen. Eine Gesellschaft, die kollektive Schwierigkeiten immer wieder durch Ablenkung, Betäubung und künstliche Stimulation begegnet, wird auf Dauer weniger konfliktfähig und weniger lösungsorientiert.
Moderne Süchte beeinflussen unsere Beziehungsebene, wie wir miteinander umgehen. Wenn das Handy ständig auf dem Tisch liegt, bist du im Gespräch nie ganz präsent. Wenn abends alle auf ihre Displays schauen, aber kaum noch tiefgehende Gespräche führen, entsteht eine oberflächliche Nähe: physisch zusammen, mental getrennt. Alkohol ist bei vielen sozialen Treffen fast schon üblich. Zwar kann er Verbindungen schaffen, doch er senkt auch Hemmschwellen und verdeckt Verletzungen, die nie wirklich verarbeitet werden. Eine Gesellschaft mit weniger echten, nüchternen und präsenten Begegnungen verliert langfristig an sozialer Tiefe und Widerstandskraft.
Auch für die Demokratie und die öffentlichen Debatten hat dies Folgen. Social Media fördert oft Zuspitzungen, Empörung und schnelle Urteile. Die lautesten Stimmen oder die polarisiertesten Beiträge ziehen mehr Aufmerksamkeit auf sich. In einer Gesellschaft, deren Aufmerksamkeitsspanne kürzer wird und die sich an schnelle Reize gewöhnt hat, haben einfache, radikale Botschaften meist bessere Chancen als komplexe, langwierige Erklärungen. Wenn zudem viele Menschen dauerhaft müde, gestresst oder emotional ausgebrannt sind, etwa durch ständige Erreichbarkeit, digitale Reizüberflutung oder Alkohol, sinkt die Bereitschaft, sich aktiv, informiert und reflektiert zu engagieren.
Die gute Nachricht ist: Diese Entwicklung ist kein Naturgesetz. Süchte der Neuzeit sind keine unvermeidlichen Folgen von Technik oder Kultur, sondern Resultate von Designentscheidungen, wirtschaftlichen Interessen, gesellschaftlichen Normen und den Gewohnheiten, die wir daraus ableiten. Das bedeutet: Du bist nicht schuld daran, in einer Welt aufzuwachen, die genau auf deine Belohnungssysteme zugeschnitten ist. Aber du hast die Wahl, wie bewusst du damit umgehst. Schon kleine Maßnahmen wie bewusste Offline-Zeiten, das Reduzieren von Benachrichtigungen, das Hinterfragen von Alkoholphasen, das Zulassen von Langeweile; echte Gespräche ohne Handynutzung sind in diesem Umfeld fast schon eine kleine Rebellion.
Langfristig wird sich zeigen, ob wir als Gesellschaft Wege finden, mit diesen modernen Süchten verantwortungsvoll umzugehen: Technologie zu nutzen, ohne süchtig zu werden; Genussmittel zu schätzen, ohne darin zu flüchten; erreichbar zu sein, ohne uns selbst zu verlieren. Wenn uns das gelingt, können soziale Medien, Smartphones und auch ein Glas Wein zum Essen Teil eines erfüllten Alltags sein. Andernfalls droht eine Zukunft, in der wir zwar ständig stimuliert werden, aber immer weniger wirklich bei uns, beim Anderen und in der Wirklichkeit ankommen.



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